2. Der Kleine Rote Fisch kann nicht schlafen

Der Kleine Rote Fisch hatte einen anstrengenden Tag hinter sich: morgens ist er zur Schule gegangen und dort den ganzen Vormittag geblieben um schließlich um 1 Uhr mittags hungrig nach Hause zu kommen. „Hallo Mama“, begrüßte er seine Mutter. Sie war von Beruf Ökologin und schrieb viel, was sie auch von zu Hause aus tun konnte. Sie hatte daher eine gute, kräftige Mahlzeit bestehend aus frischen Algen zubereitet, die sie bei Herrn Schwertfisch, dem Algenhändler erstanden hatte. „Algen, Algen, voll genial!“, freute sich der Kleine Rote Fisch. Man muss wissen, dass er Algen über alles liebte.

Nachdem er gegessen und seine Hausaufgaben gemacht hatte, nahm der Kleine Rote Fisch seinen Sportrucksack und ging zu den Nachbarn, der Familie Blaufisch, um dort seinen besten Freund, den Kleinen Blauen Fisch zum Flossenball abzuholen. Der Kleine Blaue Fisch war ein begeisterter Flossenballspieler und bedingungsloser Fan des BVB Dorschmund, während der Kleine Rote Fisch eher den 1. FC Koi unterstützte und, anders als sein Freund, sich auch noch für eine Reihe anderer Sportarten interessierte.

Dieser Tag gehörte aber eindeutig dem Flossenball. Die Schule hatte ein Turnier organisiert, an dem sich alle Jugendmannschaften des Schönen Bunten Riffes beteiligten. Die kleinen Druckerfische waren die Favoriten und hatten bereits ihr Spiel gegen die Seeigel gewonnen besiegt, die aufgrund ihrer Stacheln, mit denen sie leider nur allzu oft die Bälle zerstörten, gefürchtete Gegner waren.

Der Kleine Blaue Fisch hatte eine Mannschaft zusammengestellt, zu der neben dem Kleinen Roten Fisch und der Kleinen Weißen Fischin auch der Kleine Gelbe Fisch, der Kleine Grüne Fisch, die Kleine Rosa Fischin sowie, als Torhüter, der Kleine Bunte Fisch gehörten. Dieser hatte die längsten Flossen von allen und war daher für diesen Posten ideal geeignet.

Das erste Match hatten sie gegen eine Mannschaft zu bestehen, die aus flinken Clownfischen im Sturm und Igelfischen in der Abwehr bestand. Alle Eltern waren da, um ihre Kinder anzufeuern und erlebten eine intensive und packende Begegnung: die Kleinen Fische waren zwar überlegen, konnten aber die stachelige Abwehr nicht überwinden um einen Treffer zu landen. Erst im letzten Moment versuchte es der Kleine Blaue Fisch mit einem Weitschuss. Der Schuss kam hart, und der Verteidiger vor ihm konnte nur noch mit der Rückenflosse abfälschen. Dadurch wurde der Ball allerdings unhaltbar, und das eins zu null reichte zum Sieg!

Nach diesem guten Einstieg waren die die Kleinen Fische überglücklich und bereiteten sich unter der Leitung des Kleinen Blauen Fischs auf ihr nächstes Match vor. Sie spielten 34 zu Null gegen den Klub der Meeresschnecken, die zwar mit ihren vielen Farben sehr hübsch anzusehen aber doch recht langsam waren. Nun mussten sie nur noch die Doktorfische besiegen um ihre Gruppe zu gewinnen.

Und was für ein Spiel ! Gut vorbereitet durch den Kleinen Blauen Fisch, der als Spielertrainer agierte, konnten die Kleinen Fische von Anfang an starken Druck auf die gegnerische Abwehr aufbauen. Von Anfang an wurde aus allen Lagen geschossen. Am spektakulärsten war dabei Schwimmrückzieher von der Kleinen Weißen Fischin, durch den die Kleinen Fische rasch in Führung gingen. Allerdings hatte der gegnerische Torwart einen starken Tag: mit chirurgischer Präzision fischte er alle weiteren Schüsse aus dem Kasten, sogar einen, der direkt in die Kreuzecke gegangen wäre.

Und es kam noch schlimmer: ein geschickter Heber der Doktorfische senkte sich über den chancenlosen Kleinen Bunten Fisch ins Netz. Ausgleich! Die Kleinen Fische – und ihre Eltern – wurden nervös, und das Spiel begann zu kippen. Plötzlich war es das Tor unserer Freunde, das unter ständigem Beschuss stand. Nur eine schnelle taktische Umstellung durch den Kleinen Blauen Fisch verhinderte einen Rückstand: er schrie laut „Catenaccio!“, und alle konzentrierten sich auf das Verteidigen.

Aber sie brauchten einen Sieg. Ein Unentschieden hätte die Doktorfische an die Spitze des Klassements gebracht, da diese um einen Treffer mehr erzielt hatten. Es blieben nur wenige Augenblicke zu spielen, und der Kleine Rote Fisch nahm sein Herz in die Flosse! Ein Torwartabstoss kam direkt zu ihm, er überdribbelte einen gegnerischen Verteidiger und gab dem Kleinen Blauen Fisch Zeichen in Position zu schwimmen. Vorbei an noch einem Abwehrspieler, und dann ein Querpass auf den Kleinen Blauen Fisch, der neben dem zweiten Pfosten wartete: der Kleine Blaue Fisch stoppte den Ball mit der Schwanzflosse und musste nur noch mit der Bauchflosse einnetzen. Tool!

Die Kleinen Fische waren nun wieder im Vorteil und kurz danach beendete der Schiedsrichter die Begegnung. Da eine Pfeife unter Wasser nicht funktioniert hätte, benützten die Schiedsrichterfische eine Sirene, die lauthals „Das Spiel ist aus!“, brüllte. Welche Glückseligkeit! Spieler und Eltern fielen einander in die Flossen: Die Kleinen Fische hatten das Finale erreicht!

Wer ihr nächster Gegner sein würde, hing nun vom Ausgang des Spiels zwischen den Drückerfischen und einer Mannschaft aus Engelsfischen und kleinen Zackenbarschen ab. In der Zwischenzeit besuchten die Kleinen Fische die ebenfalls von der Schule organisierte Kirmes. Eine Hirnkoralle war zum Ringelspiel umfunktioniert worden, man konnte Seepferdchen reiten und die Kleinen Fische erhielten jeder eine zuckersüsse Algenwatte und einen Algensaft zur Belohnung, und zum Schluss vergnügten sich alle beim Schwammburghüpfen.

Gegen Mitte des Nachmittags begann das große Finale: „Anfangen!“, rief die Sirene und ein Drückerfisch machte den Anstoß. Die Kleinen Fische hielten tapfer dem Ansturm der Drücker stand, aber diese waren technisch überlegen und auch ihre Taktik war besser, da sie schon seit Jahren aufeinander eingespielt waren. Schon bald führten die Drückerfische mit zwei zu null. Vater und Mutter Rotfisch standen mit den Eltern der anderen Kleinen Fische an der Seitenauslinie und feuerten die Mannschaft ihrer Kinder an, aber deren Situation wurde immer aussichtsloser.

Das merkten auch die Drücker und wurden langsam überheblich: der Sieg, so dachten sie, konnte ihnen nicht mehr genommen werden. Dadurch nahm aber ihre Konzentration rapide ab und die Kleine Weiße Fischin konnte mit einem Überraschungstreffer ihrer Mannschaft zum 2 zu 1 verhelfen.

Für die Kleinen Fische fassten neue Hoffnung. Mit Konzentration und Disziplin spielten sie sich vom gegnerischen Druck frei und ließen sich nicht einmal vom 3 zu 1 beeindrucken, das die Drückerfische kurz danach erzielen konnten. Ein genialer Pass des Kleinen Blauen Fischs mitten durch die gegnerische Abwehr hindurch brachte den Ball zum Kleinen Roten Fisch und der beförderte ihn ins Tor. Nur mehr 3 zu 2!

Das brachte die sieggewohnten Drückerfische umso mehr aus dem Konzept, als es dem Kleinen Bunten Fisch gelungen war, zwei Schüsse zu halten und unmittelbar danach der Kleine Blaue Fisch mit einem Kopfball den Ausgleichstreffer erzielte. Papa Rotfisch hielt nervös die Hand von Mama Rotfisch, Papa Blaufisch kaute an seinen Flossenspitzen und Papa Weißfisch versteckte sich hinter dem Rücken von Papa Grünfisch und murmelte andauernd:
„Ich kann das nicht mitansehen. Ich kann das nicht mitansehen.“

Das Spiel kippte nun, die Kleinen Fische griffen jeden Gegner, der im Ballbesitz war, schonungslos an und schossen, mit neuem Mut vollgepumpt, angriffslustig aus jeder erdenklichen Position heraus. Sie konnten auf diese Weise allerdings keinen einzigen neuen Treffer erzielen. Wären ihre Nerven einem Elfmeterschießen gewachsen?

Nur mehr wenige Augenblicke zu spielen und die Sirene bereitete sich schon darauf vor, die Begegnung zu beenden, als ein Doppelpass zwischen dem Kleinen Gelben Fisch und der Kleinen Rosa Fischin die gegenerische Abwehr aufbrach. Der abschliessende Pass kam direkt zum Kleinen Roten Fisch, der eiskalt abschloss!

In dem darauf folgenden Lärm war das „Das Spiel ist aus!“ der Sirene kaum noch zu hören. Es war ein Fest für die Kleinen Fische und deren Eltern. Alle jubelten und umflossten sich überschwenglich. In seiner Eigenschaft als Bürgermeister ihrer heimatlichen Korallen- und Felsenformation, des Schönen Bunten Riffs, beglückwünschte der Mondfisch das Team, und der Kleine Blaue Fisch erhielt als Kapitän den aus einer vergoldeten Strandschnecke gefertigten Siegespokal.

Der Mondfisch hatte auch eine lange Rede vorbereitet und begann mit den Worten: „Meine getreuen Untertan … hm, ich meine, liebe Mitbürger, wir erleben heute einen ruhmreichen Tag, natürlich organisiert von mir … und ich …“, aber seine Stimme ging in den umgebenden Geräuschen unter: Die Kleinen Fische feierten ausgelassen, die Drückerfische gratulierten ihren Gegnern und freuten sich auch über ihren zweiten Platz, und die Eltern konnten einander nicht oft genug alle Einzelheiten des Finales schildern.

Papa Rotfisch schlug vor, in der “Tollkühnen Seeschnecke“, der Algenkneipe des Schönen Bunten Riffs, weiterzufeiern. Die Besitzer stammten aus den Alpen, waren aber den großen Fluss hinuntergewandert um sich an der sonnigen Küste niederzulassen. Für die Siegesfeier hatten sie ein Algenbuffet vorbereitet und viele, viele Algo-Cola-Flaschen geöffnet.

„Algen! Algen! Endlich gibt es wieder Algen!“, jubelte der Kleine Rote Fisch und sowohl die Kleinen Fische als auch ihre ehemaligen Gegner machten sich begeistert über das üppige Buffet her. Bald aber es war Zeit, nach Hause zu gehen und nachdem sie sich von allen verabschiedet hatte, brach Familie Rotfisch zu ihrer Wohnhöhle auf.

„Ab ins Bett!“, sagte Mama Rotfisch streng und der todmüde Kleine Rote Fisch legte sich mit seiner Kuschelkrabbe in seine Bettanemone um zu schlafen. Aber der Tag war zu aufregend gewesen. Er wälzte sich im Bett hin und her und konnte nicht einschlafen. Er dachte immer wieder an die einzelnen Spiele, an die Kirmes, an die Feier und nach einer Weile rief er seinen Papa. „Ich kann nicht einschlafen,“ stöhnte er. „Ich versuch’s, aber es geht nicht.“

„Hast du es schon mit Schäfchenfische-Zählen versucht?“, fragte Papa Rotfisch. „Bei mir funktioniert das immer.“ Aber der Kleine Rote Fisch antwortete; „Aber ja, Papa, es nützt aber nichts. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.“

„Vielleicht hilft eine Gute-Nacht-Geschichte.“, meinte Papa Rotfisch. „Ich erzähle dir eine Geschichte vom Kleinen Roten Menschen.“ Und das tat er dann auch, aber der Kleine Rote Fisch konnte immer noch nicht einschlafen.

„Warte, ich hab noch eine Idee.“, sagte Papa Rotfisch. „Ich mach das manchmal selber: Überleg dir, wie das ideale Riff aussehen könnte, versuch zu entscheiden, wo die Wohnhöhlen am besten sein sollten, und wo die Geschäfte, das Rathaus, die Algenkneipe und so weiter.“

„Das wird auch nicht klappen, Papa.“, meinte der Kleine Rote Fisch. „Schau, ich zeig dir’s: Das Riff müsste ungefähr so wie unseres sein und hätte eine Reihe von Wohnhöhlen am Beginn. Das Rathaus wäre auf der anderen Seite, damit man den Mondfisch nicht so oft sieht. In der Mitte wäre der Hauptplatz (hier gähnte er ausgiebig) und das Algengeschäft. Und, ja, wo war ich gerade, ah ja (wieder Gähnen), die Algenkneipe gleich daneben und, jah, und mit einer grooschen Terrahhhhhsche …“

Über diesen Worten schloss der Kleine Rote Fisch die Augen und begann sanft zu schnarchen. Papa Rotfisch gab lächelnd seinem schlafenden Sohn einen Gute-Nacht-Kuss. Ein schöner Tag war gut zu Ende gegangen und Mama Rotfisch und er gingen nun ebenfalls schlafen und träumten hochzufrieden vom ersten Pokal, den ihr Sohn gewonnen hatte.

© 2017 Olivier Fuchs – http://www.derkleinerotefisch.de